Dass längst nicht nur Erwachsene sondern auch schon Kinder und Jugendliche unter psychischen Erkrankungen leiden können, ist kein Geheimnis. Dennoch ist dieses Thema in der Öffentlichkeit stark tabuisiert, darüber gesprochen wird kaum. Gerade auch was eine ganz spezielle Erkrankung der Seele betrifft, die – körperliche wie seelische – Narben für das ganze Leben hinterlassen kann: das selbstverletzende Verhalten SVV
SVV bei Kindern und Jugendlichen: öffentlich stark tabuisiert
Für Eltern ist es eine der schlimmstmöglichen Vorstellungen: sie bemerken, dass sich ihr Kind selbst verletzt: sich den Arm blutig ritzt, mit Messern, Nadeln oder einem Feuerzeug teils gravierende Wunden und Verletzungen selbst zufügt.
Eltern haben dabei oft immer dasselbe Problem: sie bemerken die Problematik zwar und sprechen ihr Kind auch darauf an – dennoch stehen sie dem SVV ihrer Kinder doch meist machtlos gegenüber. Sie erreichen ihr Kind nur schwer oder es gelingt ihnen nicht herauszufinden, worin die Gründe für dieses Verhalten liegen.
Da die Ursachen für SVV bei Kindern und Jugendlichen oft sehr tief sitzen, genügen einfache Gespräche mit den Eltern zumeist nicht mehr. Und ein weiteres großes Problem: durch die öffentliche Tabuisierung der Thematik wissen viele Erziehungsberechtigte nicht immer, an wen sie sich wenden können, wo sie schnelle Hilfe erhalten und ob sie überhaupt mit Vertrauten und Freunden darüber reden sollen.
An dieser Stelle kommt für die Eltern zur Angst davor, ihr Kind wird sich demnächst vermutlich wieder selbst verletzen, auch die Befürchtung vor der Reaktion der Freunde und Verwandten. Häufig geben diese den Eltern nämlich selbst die Schuld dafür, dass das Kind dieses zerstörerische Verhalten an den Tag legt. Fehler und Versäumnisse in der Erziehung oder der Vorwurf, man würde die Situation überwerten und SVV könne Menschen in so jungen Jahren noch gar nicht betreffen, kriegen dabei nicht wenige betroffene Eltern zu hören.
Umso wichtiger ist, dass sich die Eltern an Stellen und Experten wenden können, die vertrauenswürdig sind und wissen, was getan werden muss. Und wichtig ist auch, dass die Eltern zunächst einmal verstehen, was SVV eigentlich genau ist und was sich dahinter verbirgt.
SVV allgemein: Definition
SVV steht für eine Vielzahl an Verhaltensweisen, bei denen sich Menschen bewusst und ganz absichtlich Verletzungen und Wunden zufügen. SVV kann bei einer ganze Reihe an Störungen und Erkrankungen auftreten, oft nach traumatischen Erlebnissen und Erfahrungen, im Rahmen von Depressionen, einer Borderline-Erkrankung, Bulimie oder Psychose.
Auch zwanghaft kann das SVV sein oder sich als Folge einer anderen Zwangsstörung äußern. Zudem kann die Art und Weise, wie sich die betroffenen Menschen selbst verletzten, variieren. Zu den häufigsten Arten von Selbstverletzungen zählen:
- das sich selbst kratzen, stechen, ritzen oder schneiden
- sich verbrennen oder verbrühen
- sich Verätzungen mit Säuren oder Laugen zufügen
- das „Kopfschlagen“ (entweder mit den Händen oder Gegenständen gegen den Kopf hämmern oder diesen z.B. gegen Wände schlagen)
- sich selbst Haare ausreißen
Männer und Frauen können dabei gleichermaßen vom SVV betroffen sein, wobei Frauen öfter unter dieser Form der psychischen Erkrankung leiden. Langzeit-Untersuchungen und Studien haben ergeben, dass sich das SVV schon teils sehr früh äußert, häufig am Beginn der Pubertät zwischen 11 und 13 Jahren.
Auch können erste auffällige Verhaltensmuster, die auf SVV schließen lassen, noch früher auftreten. Dies alles macht unmissverständlich klar, dass auch bereits Kinder an dieser schweren Krankheit leiden können. Laut einem Kontakt- und Informationsportal, beginnt fast die Hälfte aller weiblichen Betroffenen im Alter von 14 Jahren mit dem SVV.
Ursachen und Gründe für SVV
Zeigt sich SVV bei Kindern oder Jugendlichen, so steht dahinter in den allermeisten Fällen eine extreme seelische Belastung, denen sich die jungen Leidenden ausgesetzt sehen.
Oft liegt der Grund in einer ernst zu nehmenden, mitunter lebensbedrohlichen (etwa durch Suizid) psychischen Erkrankung, die sich dann in Form des SVV manifestiert bzw. äußert. Das Tragische hierbei: eine psychische Erkrankung (z.B. eine Depression) führt als dann letztlich zu einer weiteren psychischen Erkrankung (SVV), als Folge davon.
SVV ist bei den meisten Jugendlichen eine heftig, gegen den eigenen Körper gerichtete Reaktion auf belastende Umstände, die dann wiederum zu heftigen Gefühlsregungen führen. Die Kinder und Jugendlichen sind – im Gegensatz zu gesunden Gleichaltrigen – nicht in der Lage, diese Emotionen folglich zu kontrollieren und angemessen mit ihnen umzugehen.
Während z.B. ein Jugendlicher, der nicht unter SVV leidet, mit einer belastenden emotionalen Situation angemessen umzugehen weiß (indem er etwa weint oder Ablenkung von seinem Leid im Sport sucht), reagiert der unter SVV-Leidende extrem: er fügt sich selbst Schaden zu bzw. reagiert mit verletzendem, gegen sich selbst gerichtetem Verhalten, um seiner Wut, Verzweiflung oder Trauer, Ausdruck zu verleihen.
SVV: Leidensdruck wird (vermeintlich und kurzfristig) abgeschwächt
Für die Betroffenen ist eine Art Strategie, negative Gefühle wie Angst, Einsamkeit, Trauer oder enorme Aggressionen, zu bewältigen. Durch die Selbstverletzung gelingt es ihnen, diese negativen Gefühlregungen in ihrer Intensität und Wirkung abzuschwächen, sprich: das SVV dient als Ventil, um den immensen seelischen Leidensdruck von sich selbst zu nehmen.
Das Schlimme dabei ist, dass der oder die Betroffene künftig dazu neigen könnte, das SVV auch in weniger schlimmen Momenten und nach weniger belastenden Ereignissen (wie etwa einer schlechten Note oder einer Absage auf eine Bewerbung – Dinge also, die jeder kennt), anwenden könnte. Was folgt ist ein Teufelskreis aus Anspannung und darauf folgender Entspannung durch das schädliche Selbstverletzen. Daraus gibt es dann ohne psychologische und/oder therapeutischer Hilfe, nur noch schwer ein entrinnen.
Verletzt der Jugendliche sich selbst, reagiert der Körper – so befremdlich sich das erst einmal anhören mag – mit der Ausschüttung von Glückshormonen, sog. Endorphinen. Der Schmerz wird dadurch unterdrückt bzw. mitunter wenig bis gar nicht wahrgenommen, und kann sich (zunächst) einmal sogar so gut bzw. als derart befreiend anfühlen, dass das Bedürfnis nach Wiederholung ausgelöst wird.
Auch sorgen eine wahrgenommene (trügerische) Ruhe, Befriedigung und Entspannung dafür, dass man das SVV als angenehm empfindet. Die Betroffenen sind der Ansicht, sie hätten die Kontrolle über ihren Körper und niemand könne diesem etwas anhaben – außer sie selbst. Dies kann zu einem Gefühl der Macht und Stärke führen.
Mediziner und Fachleute schätzen das Risiko, dass ein Kind oder Jugendlicher früher oder später womöglich unter SVV leiden könnte als besonders hoch ein, wenn eine andere psychische Erkrankung bereits vorliegt und wenn das SVV schon bei anderen Personen, etwa im Bekannten-, Freundes- oder Familienkreis, beobachtet wurde. Besonders emotional anfällige und instabile Jugendliche sind gefährdet, irgendwann an SVV leiden zu können. Zumal ihnen dieses wiederholende Verhalten (die „Routine“ also), in gewisser Weise Stabilität in ihrem Alltag und ihrer fragilen Gefühlswelt verleiht.
Wie SVV erkennen und wie richtig darauf reagieren?
Oft kursiert der Irrglaube, dass man SVV bei Betroffenen leicht, schnell und problemlos erkennen könne. Man müsse nur auf auffällige Narben, Blutergüsse oder sonstige, leicht zu erkennende äußerliche „Merkmale“ achten.
Doch die Betroffenen sind meist sehr geübt und geschickt darin, ihre Störung bzw. Erkrankung vor der Außenwelt zu verbergen. In vielen Fällen entwickeln sie sich zu wahren Meistern der Täuschung. Verhaltensweisen und mögliche „SVV-Merkmale“, auf die Familie und Freunde besonders achten sollten, vor allem wenn sie bereits einen Verdacht haben, sind:
- zieht sich die Person seit kurzem auffällig oft zurück und meidet andere Menschen?
- schließt sich der- oder diejenige fast nur noch im eigenen Zimmer ein?
- meidet es die Person, im Sommer ins Schwimmbad, an den Strand etc. zu gehen?
- greift er oder sie auch im Sommer verstärkt zu langärmeliger Kleidung?
- trägt der- oder diejenige seit neuestem auffallende, evtl. sehr große/dicke Bänder oder Schmuck an bestimmten Körperstellen?
Natürlich sind die allermeisten Eltern – verständlicherweise – erst einmal geschockt, wenn sie SVV beim eigenen Kind feststellen. Ein Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht stellt sich ein, nicht wenige Eltern geraten in Panik. Hier gilt aber in jedem Fall: es muss versucht werden, Ruhe zu bewahren.
Voreilige Entschlüsse vermeiden, stattdessen das Gespräch auf Augenhöhe suchen
Vorschnelle, voreilige Reaktionen und Entscheidungen, das weitere Vorgehen betreffend, sollten tunlichst vermieden werden. Dies ist natürlich leicht gesagt, zumal der Anblick der von Narben und Schnittverletzungen übersäten Stellen, kaum zu ertragen ist.
Erfolgt aber eine Überreaktion und ruft man z.B. sofort und ohne das Gespräch mit dem Kind zu suchen, den Notdienst oder einen Psychiater, so wird man beim Kind das Gegenteil an Reaktion dessen erzeugen, was man sich erhofft hat: das Kind reagiert ablehnend, eine heftige Abwehrreaktion wird hervorgerufen.
Auch Schuldzuweisungen („Wie kannst du dir und uns das nur antun?“) und vorschnelle Verurteilungen führen in aller Regel zu nichts. Viel wichtiger ist, sich vertrauens- und verständnisvoll zu geben und das Gespräch zu suchen. Entscheidend ist, dem Kind klar zu machen, dass man auch weiterhin Vertrauen in es setzt und die Hintergründe für das schädigende Verhalten zu verstehen versucht. Es gilt, eine gemeinsame Ebene und Basis der Kommunikation zu finden und dem Betroffenen klar zu machen, dass man sich gemeinsam auf den Weg zu einer Problemlösung begebe.
Therapie- und Behandlungsmöglichkeiten
Wichtig ist, so früh wie möglich professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und: der oder die Betroffene muss selbst den Willen zur Verbesserung der eigenen Situation aufbringen. Die Chance auf eine Verbesserung der Lebensqualität sowie Linderung der Symptome ist durchaus hoch, solange der Leidende nur aus freien Stücke und selbst Hilfe will – diese auch annimmt.
Eine sinnvolle und bei SVV sehr hilfreiche Art der Behandlung ist die Psychotherapie. Sie bietet hier einige ihrer Ansätze, die sich bei der Behandlung von SVV besonders eignen:
- Verhaltenstherapie
- traumazentrierte Therapie
- Körpertherapie
- die tiefenpsychologisch fundierte Gesprächstherapie
- das psychoanalytische Verfahren (Psychoanalyse)
Wie die richtige Therapieform finden?
Wenn man als betroffener Mensch keine Erfahrungen mit Therapien hat und nicht weiß, welche Therapiemethode sich am besten eignet, der hat die Möglichkeit, eine psychosoziale Beratungsstelle oder entsprechende Verbände, aufzusuchen.
Dort arbeiten Experten, die sich mit den unterschiedlichen Therapieformen auskennen und dabei helfen, das richtige Verfahren zu finden. Egal, ob man es für sich selbst oder das eigene Kind sucht.
Um eine passende Therapieform zu finden, kann man natürlich auch das klärende Beratungsgespräch in Krankenhäusern, mit dem Hausarzt beim sozialpsychiatrischen Dienst suchen. Wichtig hier ist zu wissen: nicht nur die Betroffenen selbst, auch Angehörige, Freunde oder Arbeitskollegen können sich an die Sozialpsychiatrischen Dienste wenden. Mehr Informationen dazu gibt es unter www.sozialpsychiatrische-dienste.de.
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